Ein Beitrag unseres Mitarbeiters Malte:
Am 02. Dezember 2021 ist Daniel Greenberg im Alter von 87 Jahren verstorben. Zusammen mit Mimsy Sadofsky und anderen gründete er 1968 die Sudbury Valley School in Framingam, Massachusetts. Zudem veröffentlichte er eine Vielzahl an Schriften und Büchern über die Organisation, die Funktionsweisen und die Geschichte der Sudbury Valley School. Diese Schriften waren für mich der entscheidende Grund, dass ich mich für das Konzept der Sudbury-Schule begeistern konnte und besonders das Buch „Eine neue Sicht auf das Lernen“ (übersetzt von Martin Wilke) hat mich nachhaltig geprägt. Im Folgenden erzähle ich Euch von meinem Besuch der Sudbury Valley School und meiner Begegnung mit Daniel Greenberg.
Als ich im September 2011 nach einer erfolgreichen Knöchel-OP im Starnberger Krankenhaus aufwachte, hätte ich nicht ahnen können, dass ich schon 6 Monate später meinen Krankenhausaufenthalt als glückliche Lebensfügung wahrnehmen sollte. Denn meine Verletzung kam mir damals äußerst ungelegen. Seit meinem sechsten Lebensjahr spielte ich Fußball im Verein und die letzten drei Punktspiele vor der Verletzung waren die schönsten meiner aktiven Fußball-Laufbahn. Allein wegen Fußball hätte ich damals Marburg (hier habe ich studiert) niemals verlassen. Mein Knöchel war gebrochen und sämtliche Bänder und Sehnen waren gerissen. Deshalb mussten neun Schrauben und eine Platte in meinen Fuß eingesetzt werden, die dann nach einem Jahr wieder raus genommen werden sollten. Fußball war für mich erst mal vorbei. Ohne Fußball war es für mich interessanter, die Universität nach dem Bachelor noch einmal zu wechseln und ich bewarb mich für einen Master-Studiengang in Göttingen. Doch das Studium begann erst zum Sommersemester. Ich hatte also ein halbes Jahr Nichts zu tun. Schnell war mir klar, dass ich die Chance nutzen würde, um ins Ausland zu gehen, mein Englisch zu verbessern. Vom Krankenhausbett recherchierte ich nach Praktikumsmöglichkeiten und kombinierte meine Suche mit dem Stichwort „Demokratie-Lernen“, da dies das Thema meiner Abschlussarbeit war und ich gerne mit Kindern und Jugendlichen arbeiten wollte. An Schule dachte ich dabei allerdings nicht. Und so stieß ich auf Demokratische Schulen und im speziellen auf die Sudbury-Schule. Die Berichte hörten sich ziemlich unglaubwürdig an. Eine Schule, bei der die Kinder machen was sie wollen? Ich wusste wie wichtig das Demokratie-Lernen war, aber die radikale Lernfreiheit war für mich völlig neu. Nach mehreren E-Mails entschied ich mich für die Hudson Valley Sudbury School in der Nähe von Woodstock, New York.
Im Januar 2012 stand ich vor der Tür der Schule. Niemand wusste etwas von mir. Eine Mitarbeiterin der Schule hatte vergessen, die anderen über meinen Besuch zu informieren. Ich lies mir von einem sechsjährigen Jungen die Schule zeigen und war sofort beeindruckt, mit welchem Selbstverständnis und Selbstbewusstsein diese Aufgabe erledigt wurde. Als er mir die Küche zeigte, bemerkte er: „Um den Toaster zu benutzen, brauchst du einen Toaster-Führerschein“. Schon nach zwei Wochen an der Schule wurde mir klar, dass ich meinen persönlichen Weg gefunden hatte. Mein Verständnis von Bildung und die Idee, wie ich mit Kinder arbeiten wollte, haben sich in den drei Monaten an der Hudson Valley Sudbury School geformt und vieles von dem, was mir damals begegnete, erlebe ich heute in der DSX. Kurz vor Ende des Praktikums besuchte eine Mitarbeiterin der HVSS die Sudbury Valley School. Glücklicherweise durfte ich mitkommen und so hatte ich die Möglichkeit die Schule zu besuchen, aus deren Konzept sich das Model der Sudbury-Schule entwickelte.
Es war unglaublich faszinierend den Ort zu erleben, der in den Büchern von Daniel Greenberg so genau beschrieben wurde. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich mich mit dem Konzept schon ziemlich gut identifizieren und so konnte ich in Gesprächen auf kleinere Unterschiede innerhalb der Sudbury-Schulen eingehen. In den Büchern formulierte Greenberg ziemlich eindeutig, dass akademische Angebote von Mitarbeiter:innen nur dann angeboten werden sollten, wenn die Schüler:innen dies explizit forderten. Daher wunderte es mich, dass Daniel Greenberg selbst zweimal die Woche ein akademisches Angebot veranstalte (Geschichte und Technologie). Es war nicht so einfach mit ihm persönlich ins Gespräch zu kommen. Er schien zumeist sehr beschäftigt und so unterhielt ich mich mit anderen Mitarbeiter:innen und Schüler:innen. Ich sprach einen Mitarbeiter auf das akademische Angebot von Greenberg an. Er sagte mir, dass das Angebot zwar stattfinden würde, aber nicht weil Greenberg das Thema für besonders wichtig hielt, sondern nur weil es Greenberg selbst interessierte.Voller Erwartung besuchte ich sein Geschichts-Angebot. Das Angebot sollte 30 Minuten dauern und pünktlich saß ich in dem angegebenen Raum. Ungefähr 10 Schüler:innen saßen mit mir in einem lockeren Stuhlkreis. Greenberg kam 10 Minuten zu spät, da er noch etwas Wichtigeres zu tun hatte und so konnte ich noch knapp 20 Minuten „Unterricht“ erleben. Niemand hatte etwas zu schreiben dabei und alle schienen nur den Worten von Daniel Greenberg zu lauschen. Manchmal stellte jemand eine Frage, aber die meiste Zeit erzählte er selber. Und wie er erzählte: Ich hatte das Gefühl in diesen 20 Minuten mehr über Geschichte erfahren zu haben, als in sechs Jahren an der Regelschule. Die Möglichkeiten ein Thema zu präsentieren ohne an die Strukturen des Lehrplans gebunden zu sein, erschienen mir endlos. Die leuchtenden Augen, mit denen der damals 77-Jährige voller Leidenschaft über Alexander den Großen referierte, ließen ihn weitaus jünger aussehen und mir wurde klar, dass es einen Beruf gab, bei dem man nicht in Rente gehen will. Nach dem Angebot war ich mir sicher, welchen Weg ich einschlagen würde. Natürlich wollte ich auch eine Schulversammlung besuchen und hoffte dabei auf eine leidenschaftliche Diskussion. Alle Teilnehmer:innen setzen sich hin. Besonders die Gäste warteten voller Spannung auf den Beginn. Die Versammlungsleitung (ein zwölfjähriges Mädchen) eröffnete die Versammlung und beendete sie sofort wieder: Es gab keinen einzigen Antrag. Während sich die Gäste ungläubig angucken, konnte sich Greenberg ein verschmitztes Grinsen nicht verkneifen. Es gab nicht einfach eine Debatte nur weil es sich mal gerade anbot. Es war ein Beispiel für die konsequente Umsetzung einer wirklichen Demokratie und mit Daniel Greenberg ist einer ihrer größten Verfechter von uns gegangen.